Ein völlig neues Produktionssystem sowie zahlreiche  technische Neuerungen scheinen die Ursache für den Fehlstart von Boeings  Dreamliner zu sein. Allerdings sind solche Schwierigkeiten nicht  ungewöhnlich.
von Heinrich Grossbongardt
HAMBURG (sm/ks). Mit der 787 hat Boeing technologisch einen großen  Sprung gewagt. Selten wurde so viel neue Technologie in ein neues  Flugzeug gesteckt. Nicht nur, dass Rumpf, Flügel und Leitwerk komplett  aus Kohlefaser sind, auch bei den Flugzeugsystemen wählte Boeing einen  radikal neuen Ansatz. Bislang erfolgt das Starten der Triebwerke, die  Enteisung der Flügel, und die Klimatisierung der Kabine mit Luft, die  man vor der Brennkammer  aus dem Triebwerk abzapft. Das kostet Gewicht  und geht außerdem zu Lasten der Effizienz der Motoren. Die Ingenieure in  Seattle entschieden sich deshalb, von Pneumatik auf Elektrik  umzusteigen.
Diese ist es denn auch, die Boeing den meisten Ärger zu machen scheint  und auf die sich die Zulassungsbehörde jetzt in ihrer Überprüfung  konzentriert. Schon in der Flugerprobung sorgte sie für Ärger und vier  der bislang ausgelieferten 50 Flugzeuge hatten gravierende Probleme auf  diesem Gebiet. Mit den für den Start der Triebwerke oder die Beheizung  der Flügelvorderkante erforderlichen  Stromstärken in dem  115-Volt-Stromnetz an Bord umzugehen, ist Neuland. Insgesamt geht es um  knapp 1,5 Megawatt elektrischer Leistung. Als besonderes Sorgenkind  entpuppten sich die beiden großen Lithium-Ionen-Akkus, die vor allem  dazu dienen, die Hilfsturbine im Heck zu starten. In dieser  Größenordnung wurden sie an Bord von Verkehrsflugzeugen bisher nicht  eingesetzt. In einem Fall überhitzte eine Batterie am Boden und  verursachte einen Brand, in einem zweiten blieb es beim Austreten von  Elektrolyt.
Auch das Produktionssystem der 787 bricht mit ehernen Traditionen der  Branche. Nicht nur lässt Boeing wichtige Komponenten wie Flügel,  Rumpfsegmente und Teile des Leitwerks bei gut einem Dutzend Partnern in  aller Welt fertigen, nach dem Vorbild der Automobilindustrie gab das  Unternehmen auch die Zuständigkeit für die Konstruktion und das  Management der Unterlieferanten an die Partner ab. So wird der Rumpf in  vier Segmenten in Japan (Kawasaki), Italien (Alenia), Kansas (Spirit)  und South Carolina (Vought) hergestellt. Für die Flügel und den  anspruchsvollen Flügelmittelkasten sind die drei japanischen Heavys  Kawasaki, Mitsubishi und Fuji verantwortlich. Vier speziell umgebaute  Jumbo-Jets fliegen die mit allen Kabeln und Systemen ausgerüsteten  Baugruppen zu den  Endmontagelinien in Everett (Washington) und  Charleston (South Carolina). Dort werden sie dann „nur“ noch  zusammengebaut, das Flugzeug erhält Innenausstattung und Lackierung,  fertig.
Doch die Erfahrung der Autobauer mit dieser sehr weitgehenden  Arbeitsteilung fehlt in der Luftfahrt, und so überforderte diese Aufgabe  viele der Zulieferer bei Weitem. Was die ohnehin gute Profitabilität  Boeings weiter steigern und damit Wall Street Freude machen sollte,  führte geradewegs ins Desaster. Drei Jahre Verspätung und mehr als zehn  Milliarden Dollar Mehrkosten waren der Preis. Der hohe externe  Fertigungsanteil bereitet auch jetzt Kopfzerbrechen, denn er kompliziert  die Überprüfung des Produktionssystems durch die FAA.
Indes sind die Kinderkrankheiten dieses Flugzeugs für Fachleute weder  überraschend, noch sind sie in ihrem Umfang außergewöhnlich. Mehr als  90 % beträgt die Zuverlässigkeit; das bedeutet, dass etwa einer von zehn  Flügen aus technischen Gründen um mehr als 15 Minuten verspätet ist.  Kaum mehr als ein Dutzend Flüge mussten komplett gestrichen werden, seit  Erstkunde ANA am 26. Oktober 2011 den ersten Linienflug machte.
Boeing betont, dass dies in derselben Größenordnung liege wie bei   Einführung der inzwischen für ihre herausragende Zuverlässigkeit  bekannten 777. Eines ist heute allerdings anders als in den 90ern: Schon  die Nachricht über einen geplatzter Reifen findet inzwischen ihren Weg  in die Medien rund um den Globus. Der Softwareindustrie wird immer mal  vorgeworfen, sie lasse ihre Produkte beim Kunden reifen. In der  Luftfahrt ist das gar nicht anders möglich, ein Grund, weshalb die  ersten Kunden eines neuen Flugzeugs hohe Rabatte bekommen.
aus Produktion Nr. 5, 2013
 
